1. Während die Arbeit an der Komposition von Experiment Nr.X2 noch läuft, stellen sich viele Gedanken ein, die aus allen möglichen Kombinationen gespeist werden.
POTENTIELLE ZUHÖRER
2. Obgleich die Kompositonsarbeit nicht von einem bestimmten Zuhörer ausgeht, entsteht doch unwillkürliche immer wieder ein fiktiver Dialog zwischen einem möglichen Zuhörer und dem aktuellen Sound.
3. Für die überwältigende Menge der Menschen stellt experimentelle Musik keine wirkliche Option im Alltag dar.
4. Man hat sich zwar daran gewöhnt, dass durch die Fortentwicklung der Technik unvorstellbar kleine Dinge mittels Mikroskopen ’sichtbar‘ gemacht werden können, dass man elektromagnetische Wellen als Klang aus dem Radio hören kann, das alle möglichen Sensoren Vorgänge messen können, die vorher unbekannt waren, dass man aber mit dem Computer und geeigneten Zusatzgeräten nun kontrolliert Klänge erzeugen kann, die über die traditionellen Musikinstrumente und Stimmen hinausgehen, das erzeugt immer noch Erstaunen und vielfache Ablehnung.
5. Aber selbst mit Blick auf traditionelle Klangkörper wie einem Sinfonieorchester sind die meisten Zuhörer nicht bereit, alle Klangmuster zu hören, die solch ein Klangkörper hervorbringen kann. Für die meisten beschränkt sich ‚Musik‘ auf sehr wenige Muster; ein offener, neugieriger Umgang mit Klängen ist selten. Dies bleibt ‚Revoluzzern‘, ‚Oppositionellen‘, ‚Verrückten‘ und dergleichen überlassen, sich ‚anderen‘ Klängen auszusetzen.
NICHT MUSIK, SONDERN KLANG (SOUND)
6. Manchem hilft es vielleicht, im Kopf einen Schalter dadurch umzulegen, dass man von vornherein sagt, dass es nicht um ‚Musik wie früher‘ geht, vielleicht überhaupt nicht um ‚Musik‘, sondern einfach nur um ‚Klänge‘, um Wanderungen in neuen, unbekannten Klanglandschaften, um ‚Expeditionen‘, um ‚Experimente‘. Denn so, wie früher die Menschen hoffnungsvoll aufgebrochen sind, um neue Kontinente zu entdecken, so gibt es heute durch die neue Technologie des Computers völlig neue Klangräume zu entdecken, die es bis dato nicht gab; sie waren einfach nicht zugänglich. Ob manche dieser neuen Klangräume später einmal auch als ‚Musik‘ bezeichnet werden, sei hier dahin gestellt; ist eigentlich nicht wichtig.
EXPERIMENTIEREN MIT KLÄNGEN
7. Wenn man ein bekanntes Instrument nimmt und in ‚gewohnter‘ Weise darauf spielt, wird man Klänge hören, die man – mehr oder weniger – ‚kennt‘. Es gibt keine wirklich neuen Klänge. Und wenn man eine Kombination von Instrumenten nimmt – wie z.B. in einem großen Orchester –, dann kann ein Komponist sich ausdenken, was er will, er wird eingesperrt bleiben in den Vorgaben der vorhandenen Instrumente.
8. Dazu kommt, dass es zu jedem normalen Instrument auch einen Menschen geben muss, der in der Lage ist, das Instrument in einer bestimmten Weise zu spielen. Will man Klänge real ausprobieren, müssen alle diese ‚Instrumentalisten‘ zur Verfügung stehen und sie müssen die Anweisungen verstehen, was sie spielen sollen. Die übliche Notenschrift ist dazu zu grob, und neue Notationsweisen müssten erst mühsam eintrainiert werden. Dies alles macht ein flexibles, kreatives Erforschen von neuen Klangräumen mit realen Orchestern sehr schwer bis unmöglich; für ’normale‘ Menschen quasi unerreichbar.
9. Ganz anders ist die Lage, wenn man einen modernen Computer zur Verfügung hat (z.B. einen PC mit Windows7 (oder …)), und dazu eine Software (z.B. ‚live9‘ von ableton.com). In diesem Fall kann jedermann im Prinzip jeden denkbaren Klang erzeugen bzw. man kann beliebige Klänge aufnehmen oder direkt einspielen und diese aufgenommen Klänge dann beliebig verarbeiten.
10. Immer wieder hört man das Argument, ja, diese Klänge seien niemals genau die gleichen, wie wenn ein menschlicher Instrumentalist auf einem realen Instrument spielt. Ja, wenn es um die Frage geht, ob man mittels Computer ein reales Instrument ‚imitieren‘ will, aber dies wäre nur ein sehr spezieller Fall. Tatsächlich gibt es mit ‚Imitationen‘ realer Instrumente noch gewisse Grenzen. Das ist hier aber auch gar nicht der Punkt. Es geht nicht darum, etwas 100% zu imitieren, was es schon gibt, sondern es geht primär darum, etwas zu erforschen, was es ’noch nicht‘ gibt!!!!!! Dazu bietet die neue Technologie so viele schier unendlich viele Möglichkeiten, dass ein Menschenleben nicht ausreicht, um nur einen Bruchteil von diesen neuen Klängen zu erforschen.
11. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Menschen, die neue Klänge erzeugen können und es vielleicht sogar wollen, in der Regel so mit den gewohnten Klangmustern verwoben sind, dass Sie es oft gar nicht schaffen, neue Klänge zu erforschen. Wie soll man etas tun, was man gar nicht kennt?
12. Für jemanden, der sich normalerweise nicht mit Klangerzeugung beschäftigt, mag diese merkwürdig klingen: Wieso soll es so schwer sein, etwas ‚Neues‘ zu tun? Aber jeder, der es real versucht, stellt alsbald fest, ‚wirklich Neues‘ ist ‚hart‘. Man hat keine wirklichen Ansatzpunkte, und wie oft endet der Ausflug ‚ins Ungewisse‘ dort, wo man immer schon war, im allseits ‚Bekannten‘.
13. [Anmerkung: Ein ähnliches Problem haben wir z.B. auch bei der allgemeinen Programmierung von Computern. Obwohl man Computer so programmieren kann, dass sie Lernen, Gefühle haben, Entscheiden, usw. gibt es auf der ganzen Welt kaum Computer (gibt es überhaupt einen?), die dies können, weil die Menschen, die programmieren, nicht wissen, wie sie dies tun sollen. Die Möglichkeit zu ‚Neuem‘ ist das eine, diese Möglichkeiten konstruktiv nutzen zu können, ist etwas ganz anderes.]
WIRKLICH NEUES FINDEN
14. Moderne Computer mit der entsprechenden Hardware (und ‚Peripherie‘) bieten viele Möglichkeiten, den Raum des Bekannten in Richtung des noch Unbekannten zu verlassen.
15. Die wichtigste Möglichkeit besteht in der algorithmischen Transformation von Bekanntem. Man spielt ein Instrument wie gewohnt oder nimmt einen Klang aus der Umgebung auf und wendet darauf unterschiedliche Algorithmen an, die diesen Ausgangsklang verändern, transformieren. Schon hier gibt es unendliche Möglichkeiten neue Klänge zu finden, mit denen man weiter arbeiten kann.
16. …