(Das ‚X‘ steht für die über 400 Musikexperimente, die ich bislang im Stil der ‚Radically Unplugged Music (RUM)‘ durchgeführt habe. Die Musikexperimente mit der Zählung X.i bilden eine neue Serie)
Autor: cagentArtist
Literatur: Ludwig Wittgenstein, „Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung“, Frankfurt:edition suhrkamp, 6.Aufl., 1969 (verfasst 1918, erstmalig publiziert 1921).
- Ein Experiment ist ein Vorgang, bei dem das Verhalten einer abhängigen Größe Y von einer veränderlichen Größe X beobachtet wird.
- Bei einem Musikexperiment im Standardfall wäre die veränderliche Größe X ein Klang und die abhängige Größe Y der subjektive Höreindruck bei einem Hörer.
- Aus Sicht des Hörens ist ein Klang ein serielles Ereignis, das sich mit einer Sequenz von Zeitpunkten korrelieren lässt. Dadurch erhalten wir eine Folge von Paaren der Art (t,e) mit ‚t‘ für Zeitpunkt und ‚e‘ für Eigenschaftsvektor.
- Bei einem Musikexperiment mit moderner Musik benutzt man als veränderliche Größe Klänge, die von den gewohnten Klängen abweichen. Je nach Hörer kann dies etwas ganz Verschiedenes sein. Der Ausdruck ‚moderne‘ Musik ist daher unscharf, stark kontextabhängig.
- Der typische Verlauf eines Experimentes der neuen Serie X.i besteht darin, dass man einen (auch bekannten) Klang K_0 als Basis nimmt und auf diesen Klang unterschiedliche Bearbeitungsoperationen Om_i anwendet, also Om_0(K_0) = K_1, Om_1(K_1)=K_2, ….
- Die Auswahl der Operationen sowie ihre Anordnung ergeben ein Bearbeitungsprofil <Om_0, …, Om_n>, das man als einen neuen komplexen Musik-Operator Om.x =Om_0 ⊗ … ⊗ Om_n einführen kann.
- Jeder komplexe Musikexperiment-Operator definiert eindeutig eine neue Art von Klang auf der Basis eines Ausgangsklanges. Es gibt dann so viele neue Klänge wie es Ausgangsklänge und komplexe Operatoren gibt. Die Menge ist mindestens aufzählbar unendlich.
- Als Basis-Klang K_0 soll in diesem Experiment Nr. X.1 der folgende geschriebene Satz der deutschen Sprache genommen werden:
- „Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schreibt in seinem Tractatus Logico-Philosophicus 1918, dass die Welt alles ist, was der Fall ist. Das, was der Fall ist, ist das Bestehen von Sachverhalten. Der Gedanke ist das logische Bild der Tatsachen (;= Sachverhalte) und zugleich der sinnvolle Satz.Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze. Die allgemeinste Form eines Satzes ist dann die Angabe eines Ausgangssatzes p und die Menge der möglichen Operationen, die auf diesen Ausgangssatz und den daraus sich ergebenden Ergebnissen angewendet werden können. Wovon man in dieser Weise nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
- Operation Om0: Man spricht diesen Satz in ein Mikrophon, dessen Ausgangssignal mit 96Khz abgetastet und in den Wertebereich von 32-Bit abgebildet wird ==> K0.
ExperimentX.1: Om0(Ausgangstext)= Ausgangsklang K0 |
11. Operation Om1: Man zerschneidet den Ausgangsklang K0 in einem 4/4-Takt mit BPS=120 nach 1 Takt und fügt für die Länge eines Taktes eine Pause ein.
Experiment X.1: Om1(K0)= Folgeklang K1 |
12. Operation Om2: Man ergänzt den Ausgangsklang K1 in den 4/4-Takt-Pausen durch einen Streichbass mit 4 Viertel Noten. Zugleich werden Teiloperationen jeweils auf die Stimme 1 (Om2a), Stimme 1 unten (Om2b), sowie den Double Bass (Om2c) angewendet, also Om2 = Om2a ⊗ Om2b ⊗ Om2c.
Experiment X.1: Om2(K1)= Folgeklang K2 |
Om2a (Operation auf Stimme 1) |
Om2b (Operation auf Synchronstimme von 1) |
Om2c (Operation auf Double Bass) |
13. Operation Om3: Man wendet auf K2 Om3 an, d.h. zusätzlich zum Bass ein Schlagzeug.
Experiment X.1: Om3(K2)=K3 |
14. Man wendet Om4 auf K3 an, d.h. zusätzlich eine männliche und eine weibliche Chorstimme:
Om3a |
Om3b |
KOMMENTARE
In der Philosophie-Werkstatt vom 8.Februar 2014 wurde dieses Experiment erstmals vorgestellt. Mit ihm verbindet sich zunächst kein spezieller ‚ästhetischer‘ Anspruch; es ging primär um die Umsetzung des Prinzips. Aber selbst in dieser einfachen Form gab es interessante Rückmeldungen:
1. Die Einfügung von Pausen im Text führten zu einem ‚Stotter‘-Effekt: das erlernte Sprachverständnis erzeugt spontan Erwartungen, wie es weitergehen sollte. Führt fast zu einer Intensivierung der Textwahrnehmung.
2. Der Bass in den Pausen und die Verfremdung der Stimme führte ‚Emotionen‘ ein: manchen kam das Ganze durch den Bass etwas ‚unheimlich‘ vor.
3. Die Hinzunahme des Schlagzeugs empfanden viele als Aufmerksamkeitsfänger: dies führte zu einer zusätzlichen Abschwächung der Textwahrnehmung.
4. Die männlichen und weiblichen Chorstimmen empfanden einige als ‚freundlich‘, eine Gegenwirkung zum dunklen Bass. Insgesamt wurde die Stimme aber dann als kaum noch verständlich wahrgenommen. Die Stimme begann in Gesamtklangereignis zu ‚verschwimmen‘.